Lesen ...
"..Das beste Cabrio
Wir könnten einem 916er Spider heute vieles vorwerfen. Seinen kleinen Kofferraum, zum Beispiel. Oder sein doch recht hohes Gewicht von fast 1,4 Tonnen. Und dann wäre da noch – Sie wissen natürlich, was jetzt kommen muss – die Sache mit dem Quermotor und Frontantrieb, was viele Alfisti diesem Auto auch nie wirklich verziehen haben. Wer also wirklich nörgeln will, der muss bei der fünften Spider-Auflage nicht lange suchen. Eines kann man diesem Modell jedoch nicht ankreiden: fehlende Eigenständigkeit. Stellen Sie sich einmal schräg von vorn vor dieses Auto, allein schon wegen der Gürtellinie. Die steigt steil nach hinten an, um dann, unterstützt von einer markanten Sicke, die Passagiere beschützend zu umschließen. Ziemlich einzigartig, oder?
Foto: Dino Eisele
Bis auf das Scudetto, das Alfa-Herz, vorn in der Haube keinerlei Orientierung mehr an der hauseigenen Spider-Historie.
Und überhaupt, diese extreme Keilform des fünften Spider. Vorn tief geduckt, ab der Mitte dann mit hochgezogenen Schultern, dahinter ein muskulöser Nacken mit einem schräg abgehackten Heck. Schon krass, was die Alfa-Romeo-Designer in Zusammenarbeit mit Ferraris traditioneller Karosserieschneiderei Pininfarina da gezeichnet haben: Bis auf das Scudetto, das Alfa-Herz, vorn in der Haube keinerlei Orientierung mehr an der hauseigenen Spider-Historie – radikaler konnte man sich nun wirklich nicht von seinen über 27 Jahre lang gebauten Vorfahren absetzen. Gut oder schlecht? Egal. So eine ins Blech gestanzte Dramaturgie (Verzeihung, die komplette Frontpartie ist natürlich aus Kunststoff gefertigt) verdient unsere Anerkennung – heute mehr denn je, weil sich so etwas längst kein Großserienhersteller mehr traut.
Fiat liefert die Basis
Natürlich provoziert dieses Design. Schon verwegen, dieser hohe und breite Hintern, der uns mit seinen Proportionen und dem weit nach vorn gerückten Passagierabteil einen Mittelmotor-Sportwagen vortäuscht. Das wär’s natürlich gewesen! Alfa hatte jedoch keine Chance, der Fiat-Dominanz zu entgehen: Der Motor (mit Graugussblock aus dem – Sie ahnen es schon! – Fiat-Regal) sitzt natürlich auch im 916 vorn, und zwar auf dem Tipo-Unterbau. Die lange Ära der Hecktriebler – bei Alfa aus und vorbei. Über Sinn und Zweck einer Plattformstrategie soll hier aber nicht diskutiert werden, allein schon aus Zeitgründen. Weil dieser silberne 2.0 Twin Spark Jahrgang 2002 darauf wartet, endlich gefahren zu werden. Die schweren Türen schließen mit einem satten Klacken, die tiefen Sitze bieten schon im Strand festen Seitenhalt, und das Cockpit zeigt sich mit seinen zwei großen Uhren für Tempo und Drehzahl und drei weiteren Rund-instrumenten in der breiten Mittelkonsole funktional und dennoch geschmackvoll.
Das Auto passt auf Anhieb wie ein maßgeschneiderter Schuh; sobald du drinsitzt, umschmeichelt er dich, der fünfte Spider. Nettes Detail am Rande: Die Form des Schalters für den Warnblinker ist der des Scudetto nachempfunden – einfach klasse. Eine schicke Steuerzentrale bauen, das können sie dort in Italien. Und wie die Techniker die Sache mit dem Sound gelöst haben, verdient ebenfalls Respekt. Der Vierzylinder mit (Alfa-)Leichtmetallkopf und Doppelzündung klingt – wie ein Alfa Romeo! Im Stand grummeln, bei schneller Fahrt kernig und fauchend. So etwas kann süchtig machen, und ab 4.000 Touren will man dann gar nicht mehr vom Gas, wobei das Auto immer nach ein wenig mehr als 155 PS klingt. Unterhalb unseres 2.0 TS bot Alfa für den neuen Spider auch einen 144 PS starken 1.8-TS-16V-Vierzylinder an, der auch schon im Alfa 156 zu finden war. Und ab Mai 2003 wurde angesichts strengerer Abgasvorschriften mit dem 2.0 JTS auch ein 164 PS starker Vierzylinder-Direkteinspritzer (mit Euro 4) ins Programm aufgenommen.
Alfa Romeo Spider (916)
5. Generation im Fahrbericht
Und dann wären da noch die klangvollen Sechszylinder mit ihren hochglanzpolierten Ansaugrohren. Eine Alfa-Eigenentwicklung, die auf dem legendären Arese-V6 aus Leichtmetall basierte, der 1979 als 2,5-Liter-Motor im Alfa Romeo 6 debütierte. Im Spider steht dieses Aggregat anfangs als 192 PS starker 3.0 12V, später als 220 PS starker 3.0 24V zur Verfügung. In einigen Ländern wird der V6 im Spider auch als Zweiliter-Turbo angeboten, doch wegen strengerer Abgasvorschriften und einer geringen Nachfrage entfällt dieser Motor bereits zum Modelljahr 2001. Gleichzeitig wird der 3.0 12V durch den 3.0 24V mit 220 PS ersetzt, und im Jahr 2003, also pünktlich zum großen Facelift, kommt schließlich der 3.2 24V mit 240 PS. Die beiden 24V-Sechszylinder verfügen zudem über je zwei obenliegende Nockenwellen pro Zylinderbank – ganz so, wie es die Spider-Szene schon immer gewöhnt war. Aber: Einen Sechszylinder in einem Spider, das hatte es zuletzt in den 60er-Jahren im 2600 gegeben.
Ein echter Kurvenstar
Zurück zu unserem Spider 2.0 TS, der sich allmählich warm gefahren hat. Kurven liegen ihm, keine Frage. Frontantrieb? Spürt man höchstens, wenn man im Stand zu viel Gas gibt, weil der Spider dann natürlich mit den Vorderrädern scharrt. Ansonsten merkt man sofort, dass es sich bei diesem Modell am Ende doch nicht um ein billiges Rotstiftauto handelt: Seine Tipo-2-Plattform teilt er sich zwar mit den Modellen Fiat Tipo, Coupé Fiat, Lancia Dedra und Alfa 155/156. Doch nur dem Spider haben die Konstrukteure eine aufwendige Multilink-Hinterachse mit Längs-, Quer- und Schräglenkern spendiert, die in einem stabilen Hilfsrahmen sitzt und für ein nahezu neutrales Eigenlenkverhalten sorgt. Weil sich die Hinterräder beim Einlenken infolge der Achskinematik immer ein klein wenig in die Gegenrichtung drehen, verliert der 916 viel von der typischen Kurvenunwilligkeit eines Fronttrieblers. Nur der große Wendekreis erinnert an die neue Ordnung.
Bei der Abstimmung des Fahrwerks hingegen haben es die Alfa-Konstrukteure dann doch ein wenig zu sportlich gemeint. Das Auto liegt hart auf der Straße, quittiert schlechte Strecken bisweilen mit Knarren und Knacken, was von Verwindungen der Karosserie her stammt. Größere Bodenwellen bringen den Spider auch schon mal zum Zittern, man spürt es deutlich am Lenkrad. Macht aber alles nix, weil dieser Spider nun einmal ein klasse Auto ist. Alfa hatte den Mut, alles anders zu machen, allein dafür muss man diesem fünften Spider eine Chance geben. Eine Skulptur ist er mit seiner extremen Keilform obendrein."
..
*Quelle: MotorClassic Youngtimer 8/2017